Leontief und die Kinder der Philosophie

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Hörsaal 202, alle Stühle sind besetzt. Die Goldene Promotionsurkunde soll überreicht werden an einen ehemaligen Studenten der Philosophischen Fakultät ( unsere heutige Wirtschaftswissenschaftliche war ein Teil davon ) an der damaligen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin: Wassily Leontief.

Das Thema seiner Dissertation im Jahre 1928, " Die Wirtschaft als Kreislauf ", gehörte zu den Grundlagen einer Idee, für die er 1973 den Nobelpreis erhielt: die Input-Output-Analyse.

Feierliche Grußreden werden gehalten von Dekan Plinke, Dekan Schilling von der Philosophischen Fakultät IV, welcher hofft, daß " ein Fleckchen des Ruhms auch auf die Philosophische Fakultät fällt ", und von Prof. Burda. Dank seiner Initiative konnte die Verleihung der Goldenen Promotionsurkunde unserer Fakultät an Wassily Leontief stattfinden. Diese Verleihung wäre eigentlich schon 50 Jahre nach seiner Dissertation fällig gewesen, scheiterte jedoch zu DDR-Zeiten am Widerstand der entsprechenden Abteilung im Zentralkomittee der SED.

Leontief, heute 88jährig, verneint energisch die Frage, ob er sitzenbleiben möchte und geht zielstrebig auf das Rednerpult zu. Er beginnt sofort mit seinem Vortrag. Fast fiele der feierliche Akt der Urkundenübergabe ins Wasser, wenn Dekan Plinke nicht vorsichtig daran erinnerte. Zwei Seiten reines Lateinisch werden verlesen. Leontief hört andächtig zu, fast etwas verlegen, als habe er diese Zeremonie nicht verdient. Er hat sofort die Sympathien der Studenten, als er die Urkunde dem Publikum zeigt und verwundert lächelnd über den langen Text streicht. Leontief  freut sich sehr über den " außerordentlichen Empfang " und beginnt endlich mit seiner Vorlesung.

Nach langen Jahren in der Nationalökonomie sei er nun wieder zur Philosophie zurückgekehrt, denn alle Wissenschaften seien Kinder der Philosophie. Sein neues Modell, an dem er noch arbeitet, untersucht die Interdisziplinarität der Wissenschaften. Er legt eine Matrix auf, ähnlich der für seine Input-Output-Analyse verwendeten. Es gibt eine auffällige Symmetrie, deren Achse die Diagonale ist... Aber er habe schon zu viel verraten, auch scheinen ihm seine Zuhörer "schon müde ". Das Schöne an der Wissenschaft ist für ihn, daß es immer neue Fragen gibt. Langer Beifall.

Am darauffolgenden Tag hält Leontief eine zweite Vorlesung zum Thema: "Die Arbeit und der technische Fortschritt". Im Anschluß daran antwortet er auf die Fragen der Studenten.

Leontief realisierte mit seiner Input-Output-Analyse einen Traum des Physiokraten Francois Quesnay, dessen Tableau economique noch nicht mit konkreten Zahlen ausgefüllt werden konnte. Auch Leontiefs Matrix mußten zunächst  Hunderte von Leuten invertieren, bevor ab 1936 die ersten Großrechner diese Aufgabe übernahmen. Heute werden Tausende von Branchen in einer Matrix miteinander verknüpft.

Leontief kritisierte schon seit etwa 30 Jahren die mathematisch fixierten Wirtschaftstheoretiker, die eine unbedeutende Erkenntnis mit riesigen Formelgebäuden tarnen. Er sagte einmal: "Manche Forscher sind wie Flugzeuge, die abheben, kreisen und niemals wieder landen."

Seine empirischen Forschungen griffen auch allgemein anerkannte Modelle an, so z.B. das Heckscher-Ohlin-Theorem. Er zeigte, daß die USA vor allem arbeitsintensive Produkte exportierten, obwohl sie als kapitalintensiv galten
Aber auch er blieb mit seiner Input-Output-Analyse von Kritik, vor allem durch neoklassisch orientierte Ökonomen, nicht verschont. Trotzdem gehört seine Methode zu den wichtigen Analyseinstrumenten der modernen Wirtschaftspolitik.

Beatrice Kühn
Fotos: Christian Müller

Biographische Daten

am 5. August 1906 in Petersburg geboren

1925-1925

Studium an der Universität in Petersburg
(Philosophie, Soziologie, Wirtschaftswissenschaften)

1925-1928

Studium an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin,
Arbeit an den Grundlagen der Input-Output-Analyse

1927

Erarbeitung statistischer Methoden zur Ableitung von Angebots- und Nachfragekurven am Kieler Institut für Weltwirtschaft

1928

Promotion in Berlin zum Thema "Die Wirtschaft als Kreislauf"

1928-1929

ökonomischer Berater des chinesischen Eisenbahnministers in Nanking auf
Einladung der Chiang-Kai-Shek-Regierung

1931

Ausreise in die USA, Arbeit am National Bureau of Economic Research und Tätigkeit als Forschungsassistent an der Harvard-Universität, danach Rückkehr nach Berlin

1946-1975

Professor an der Harvard-Universität

1973

Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften