Wirtschaftswissenschaft an der HU - Teil III (1989-1991)

Die Wissenschaftler an der Sektion Wirtschaftswissenschaften hatten natürlich schon vor 1989 bemerkt, daß die DDR auf dem Weg in eine schwere Krise war. So richtig deutlich sagten sie das zwar nicht, wofür es verschiedene durchaus akzeptable Gründe geben könnte, aber in einigen Lehrveranstaltungen, bei Gesprächen am Rande oder auch in verschiedenen Publikationen dachte man schon gelegentlich laut über notwendige Veränderungen im ökonomischen System der DDR nach. Und spätestens nach der Machtübernahme Gorbatschows in der damaligen Sowjetunion wurde auch der Druck in Richtung politischer Öffnung und demokratischer Reform des "realsozialistischen" Systems der DDR immer stärker. Die alten Herren der SED-Spitze wehrten sich auf eine derart halsstarrige Weise dagegen, das selbst gestandenen Altkommunisten der Kaffee hochkam. Der bereits erwähnte Kurt Hager brachte diese rechthaberische Argumentation auf den Punkt, indem er einmal sinngemäß fragte, ob man denn selbst zum Pinsel greifen würde, nur weil der Nachbar renoviert. Viele verloren so jede Hoffnung auf Veränderung ihrer unbefriedigenden politischen, aber vor allem auch ökonomischen Situation. Im Frühjahr und Sommer des Jahres 1989 begann daher eine in ihrem Ausmaß unvergleichliche Ausreisewelle. Tausende demonstrierten in den Straßen Leipzigs und anderer Städte. Selbst in dieser Situation änderte sich nichts an der Haltung der Politbürokratie. Man feierte den 40. Jahrestag des Staates, der das folgende Jahr nicht überleben sollte.

Kurz nach diesem Ereignis setzte dann die dramatische Entwicklung ein, die heute als "friedliche Revolution" der ganze Stolz vieler Deutscher ist. Die Inthronisierung von Egon Krenz, die Auswechslung des Ministerrates und Wahl der Regierung Modrow war das erste Kapitel, die Wahlen des 18. März 1990 und die Regierung de Maizière folgte, am 1. Juli kam die D-Mark, wenige Monate später die Vereinigung.

Die Wende an der Universität

Auch an der Universität begannen die Strukturen zu wackeln. Der Alleinvertretungsanspruch der FDJ war eine der ersten durchbrochenen Institutionen. Auf einer Vielzahl großer Versammlungen diskutierten Studenten aller Fachrichtungen über die Reform der Vertretung studentischer Interessen. Aus heutiger Sicht sehr interessant ist die Tatsache, daß die meisten dieser Veranstaltungen von ehemaligen FDJ- oder Parteifunktionären bzw. von früher aktiven Mitgliedern dieser Vereinigungen organisiert wurden. Bei den Studenten der Wirtschaftswissenschaften lief wie immer alles sehr zurückhaltend ab. Nur Veranstaltungen mit Prominenten wie dem Schriftsteller und heutigem Alterspräsidenten des Bundestages Stefan Heym oder auch mit dem bereits erwähnten Jürgen Kuczynski lockten auch die Studenten aus der Spandauer Straße in Scharen an. Die FDJ-Strukturen lösten sich fast unmerklich auf. Eine Gruppe von anfangs vielleicht 70 Studenten beschloß die Demokratisierung, dann wurde der Sektionsstudentenrat (SeStRa) gegründet, in dem vielleicht noch 15 Studenten aktiv waren, die bald auf den harten Kern von knapp 8 Personen zusammenschmolzen. Diese waren voll damit beschäftigt, über Strukturen nachzudenken, in allen entstandenen Gremien Mitspracherecht einzufordern und wahrzunehmen und das eigene Handeln mit den zentralen und den Studentenvertretungen an anderen Sektionen zu koordinieren. Zeitweise wurde der Studentenrat zum relativ wirkungsfreien Zwei-Personen-Unternehmen. Erst in Vorbereitung der Übernahme der Verantwortung durch den Fakultätsrat Ende 1993 erwachte der SeStRa aus seinem Dornröschenschlaf und trat, um neu geworbene Mitarbeiter verstärkt, in Aktion.

Etwas erfolgreicher im Handeln war die hiesige Gruppe der internationalen Studentenvereinigung AIESEC. Im Dezember 1989 tauchten zwei Vertreter des Nationalkomitees aus Köln in Berlin auf und führten eine Informationsveranstaltung durch. Zur gleichen Zeit knüpften einige neugierige Studenten auch Kontakte zum Lokalkomitee an der TU. Erste Einladungen folgten. Einige Studenten fuhren nach Freiburg zu einer Veranstaltung mit Vertretern großer Banken. Sie knüpften Kontakte und kamen mit der Idee nach Hause, an der Humboldt-Universität ein Bankensymposium durchzuführen. Natürlich ließ kaum eine der eingeladenen Banken es sich nehmen, bei dieser Veranstaltung zu erscheinen und sich zu präsentieren. Schirmherren dieser ersten Großveranstaltung waren der damalige Bundesforschungsminister Riesenhuber und der Präsident der Deutschen Außenhandelsbank AG (der DDR) Polze. Im Februar konnte ein Humboldt-AIESECer als erster, einziger und letzter DDR-Student an einem International Congress von AIESEC teilnehmen und sich feiern lassen. Aber auch die Aktivisten dieses Vereins hatten ein Problem: Fast alle Mitarbeiter waren genau so lange aktiv, bis sie durch die damit verbundenen Firmenkontakte für sich selbst eine Praktikantenstelle organisiert hatten. Das Personalkarussell raste also, und die nächste Zeit war weniger glorreich. Im Januar 1991 erschien der erste und einzige eigene Jahresbericht der Humboldt-Gruppe. Die folgenden Veranstaltungen waren zwar durchaus nicht uninteressant, aber so leicht, unkompliziert und euphorisch war es nicht mehr. Man gewann den Börsenpapst André Kostolany für einen gutbesuchten Vortrag (in dem er allen börseninteressierten Studenten dringend vom Studium der Wirtschaftswissenschaften abriet) und versuchte sich an einer Großveranstaltung über die Zukunftsstrategien der Autoindustrie, die, verglichen mit dem Bankensymposium, ein Flop war. Der Rausch der Wendezeit war vorbei, Alltag (wenn auch ein anderer) kehrte ein.

Lehren und Lernen zwischen Marx und Markt

Verglichen mit den Kaderschmieden der SED war die Sektion Wirtschaftswissenschaften immer ein Ort der kritischen Auseinandersetzung mit den herrschenden Dogmen geblieben, auch wenn aus heutiger Sicht ein Blick auf Veröffentlichungen damaliger Professoren dies nicht einmal ahnen läßt. Die in gewisser Weise eines der Grundübel des sozialistischen Wirtschaftssystems widerspiegelnde Nischenexistenz der auf finanzwissenschaftliche, finanzwirtschaftliche und geldtheoretische Probleme spezialisierten Sektion ermöglichte eine freiere und lockere Diskussion auch sonst tabuisierter Fragen. „Freier und lockerer" heißt natürlich lange nicht frei und locker, aber man stand nicht so im offiziellen Blickpunkt. Als die Wende kam, waren die damaligen Wissenschaftler teilweise auch ratlos, aber viele waren hoch motiviert, ihrem Forschungsgegenstand, dem Geld und den Finanzen, wieder auch in der Praxis zur verdienten Geltung zu verhelfen. Sehr schnell zeichnete sich jedoch ab, daß eine kurzfristige Vereinigung beider deutscher Staaten immer unvermeidlicher bzw. schneller möglich wurde, je nachdem, welcher Alternative man persönlich den Vorzug gab. Man begann damit, die Lehrveranstaltungen inhaltlich und strukturell den bundesdeutschen Gegebenheiten anzugleichen. Vor den Lehrkräften stand das Problem (natürlich je nach eigenem Fachgebiet in unterschiedlichem Maße), sich fast parallel zur Lehre den Stoff selbst erst anzueignen. Da das in einigen Bereichen natürlich sehr schwer bis unmöglich war, wurden eine große Anzahl namenloser bis sehr namhafter Gäste engagiert, die mit mehr oder weniger großer Ausdauer die hiesigen Wissenschaftler unterstützten. Im Herbst 1991 verließen erstmals Studenten mit in zahlreichen Intensivkursen erworbenen Kenntnissen des marktwirtschaftlichen Systems die Universität. Gleichzeitig wurden in diesem Jahr die ersten „regulären" Vordiplome vergeben. Diese waren im wesentlichen in einem Intensivkurs in der vorlesungsfreien Zeit nach dem Wintersemester 1990/91 erworben worden, der für die Studenten des Immatrikulationsjahres 1988 organisiert worden war. In sechs Wochen wurden vom frühen Morgen bis zum späten Nachmittag geballt Lehrveranstaltungen abgehalten, an den Abenden und Wochenenden wurde gelernt und nach Ablauf der Zeit Klausuren geschrieben, die einen Großteil des Stoffs zweier regulärer Semester umfaßten.

In der Folgezeit wurden viele Lehrveranstaltungen von Hochschullehrern abgehalten, die sich an einem Ruf an die Humboldt-Universität interessiert zeigten oder die einen solchen Ruf bereits erhalten hatten und während der Verhandlungen mit dem Kanzler hier Vorlesungen hielten. Sehr aktiv waren auch bereits emeritierte Hochschullehrer anderer deutscher Universitäten, zum Beispiel die Professoren Dlugos (FU), Helmstädter (Münster), Krelle und Tuchtfeld (Bern). So kamen die in der Zeit der Umstrukturierung im Hauptstudium studierenden angehenden Betriebs- und Volkswirte in den Genuß, bei Interesse einige Vorlesungen jedes Semester bei einem anderen Hochschullehrer hören zu können. Das ist natürlich sehr verlockend und interessant, aber dann von Nachteil, wenn man irgendwann dazu eine Prüfung wiederum beim nächsten Professor schreiben muß. Leider zeigte (und zeigt) kaum einer der jeweils Prüfenden dafür Verständnis, daß zwischen ihrer und anderen Vorlesungen zum selben Thema heutzutage oft ein himmelweiter Unterschied besteht, anders als beispielsweise während ihres eigenen Studiums.

Die Arbeit der Struktur- und Berufungskommission

Nachdem die Universität unter dem damaligen Rektor Heinrich Fink bereits selbst mit der Umgestaltung begonnen hatte, griff in diesen Prozeß der Berliner Senat ein. Zunächst in den sogenannten „staatsnahen", später auch in allen anderen Fachbereichen wurden Struktur- und Berufungskommissionen (SBK) eingesetzt, die die Umgestaltung des jeweiligen Fachbereichs leiten sollten. Die Einrichtung dieser Kommissionen ist aus heutiger Sicht wohl eine sehr gute Entscheidung gewesen. Besonders von einigen offenbar daran interessierten Kreisen aus dem Westteil Berlins kam damals die Forderung, die Humboldt-Universität aufzulösen und Studenten und Ressourcen auf die FU und TU zu verteilen. Begründet wurde dies einerseits damit, daß drei Universitäten zuviel für die deutsche Hauptstadt wären, andererseits mit dem Argument, daß die Humboldt-Universität mit stalinistischen Seilschaften und PDS-Mitgliedern derart durchsetzt wäre, daß eine eigenständige Reform von innen heraus unmöglich sei. Diese Behauptung wurde auch durch die Tatsache genährt, daß die Universitätsleitung die Humboldt-Uni als einzige deutsche Hochschule per Gerichtsverfahren erfolgreich vor der Abwicklung bewahrt hatte. Und tatsächlich sollte sich in der Arbeit der SBK auch später noch herausstellen, daß es in den zentralen Gremien Kräfte gab, die aus Prinzip alle Beschlüsse, die auf eine personelle Umstrukturierung zielten, zu verzögern oder zu verhindern suchten. Meiner Meinung gefährdeten sie damit aber eher die Existenz der Uni, als sie ihren Gruppeninteressen dienten.

Jens Barthel