Der sprachlose homo oeconomicus

Zu dem Buch Transformation der ökonomischen Vernunft von Peter Ulrich

Der homo oeconomicus ist ein erfolgreicher, aber auch ein einsamer Mensch. Er hat keine immateriellen oder sozialen Bedürfnisse, und er kann immer nur kal-kulieren, nie kommunizieren. Einer seiner Geburtshelfer, David Ricardo, ent-warf ihn als theoretisches Hilfsmittel, um wirtschaftstheoretische Probleme iso-liert betrachten zu können. Aber der Junge gewann mit der Zeit ein Eigenleben.

Der methodologische Idealtypus wurde gleichgesetzt mit einem normativen Ideal. Man konstruierte ökonomische Gesetze und leitete daraus normative Schlüsse ab. „Derlei methodologische Bedenken kümmerten zunächst den jungen homo oeconomicus ... wenig. Für ihn war die Welt in seiner ersten Lebensphase noch ganz in Ordnung. Das Urvertrauen in die „natürliche" Interessenharmonie in einer vollkommenen Marktwirtschaft, das ihm seine Mutter, die liberale Wirtschaftstheorie mit auf den Weg gegeben hatte, und die Freude am rationalen Kalkulieren mit Nutzenquanten, die er vom Vater, dem Utilitarismus, vermittelt bekam, ergänzen sich bestens." (S. 197f.)

Die ökonomistische Fiktion war, daß die „unsichtbare Hand" für den vollkommenen Ausgleich der sozialen Interessen sorgt, wenn nur jeder sein Eigeninteresse verfolgt. Dieses wurde dann üblicherweise als Gewinnmaximierung bei Unternehmern und als Maximierung von Gütermengen bei den Konsumenten interpretiert. Aber was bleibt bei dieser „Eintrichterung" (Peter Ulrich) gesellschaftlicher Wertvorstellungen zum angeblich neutralen Gewinnziel auf der Strecke? Die sozialen und ökologischen Kosten für die Gesellschaft, anders gesagt die externen Effekte, die man heute beim besten Willen nicht mehr einfach zum Ausnahmefall erklären kann.

In der Entwicklung der neoklassischen Wirtschaftstheorie wurde diese metaphysische Harmonieprämisse dann immer mehr mit rationaler Argumentation angerei-chert, aber nie ganz fallengelassen – so in der Grenznutzentheorie, der Gleichgewichtstheorie und der neueren Wohlfahrtsökonomik.

Eine wichtige Argumentationshilfe für Ulrich ist im weiteren die Sozialwahltheorie von Arrow und dessen Unmöglichkeitstheorem. Es steht noch dieselbe Frage wie oben: Gibt es eine kollektive Wohlfahrtsfunktion, die zudem dem Kriterium der Fairness entspricht, d.h. der Chancengleichheit und Gleichbehandlung aller Individuen? Arrow erbrachte nun den Beweis, daß sich unter recht allgemeinen Bedingungen nicht aus individuellen Präferenzrangfolgen eine solche kollektive Präferenzentscheidung aggregieren läßt. Es muß vielmehr bereits einen politischen Konsensus über die grundlegende Sozialordnung geben (vgl. S. 212f. und Arrow: Social Choice and Individual Values, New Haven/ London 1973).

Das bedeutet aber, daß nicht eine automatische (Sozial)steuerung, sondern rationale Verständigung zu kollektiver Wohlfahrt führt, was notwendigerweise die Veränderung individueller Präferenzen mit einschließt. Schon die alten Utilitaristen wiesen ja darauf hin, daß die Interessenharmonie erst durch rationale Politik, d.h. Rechtsetzung (Jeremy Bentham) und durch Erziehung als Verstärkung altruistischer Neigungen (John Stuart Mill) geschaffen werden muß.

Damit wären wir beim eigentlichen Thema des Buches neben der Kritik an einer autonomen Ökonomik:
Die verfehlte, eindimensionale Rationalisierung von Arbeits- und Lebenswelt, Politik und Wissenschaft unter abstrakten Effizienzkriterien muß abgelöst werden durch den Vorrang der kommunikativen Vernunft. Sein grundlegender Befund ist die Abkopplung der ökonomischen Rationalisierungsdynamik von den authentischen lebensweltlichen Bedürfnissen der Menschen (was sich in der theoretischen Ökonomie widerspiegelt). Die Lebenswelt, der Erfahrungsbereich der Alltagspraxis und der sozialen Interaktion wird immer mehr den institutionalisierten Sachzwängen, v.a. des Wirtschaftssystems, untergeordnet.

Besonders deutlich wird dies in der Arbeitswelt: Das tayloristische System der Arbeitsorganisation läßt den Arbeiter nur noch wie ein Rädchen im Getriebe Teilprozesse ausführen, ohne seine individuellen Fähigkeiten zu berücksichtigen. So verliert die Arbeit jeden Eigenwert und der eintretende Sinnverlust kann nur durch Konsum kompensiert werden. Andere Beispiele für die Verselbständigung des Systems gegenüber lebenspraktischen Bedürfnissen, also die eindimensionale Rationalisierung findet man in der Ausbreitung der Bürokratie, der spezialisierten und vorgeblich wertneutralen Wissenschaft, der Unterordnung demokratischer Politik unter das ökonomische System, in der Kommerzialisierung unserer Städte etc.

Noch radikaler könnte man mit Habermas von der Kolonialisierung der Lebenswelt sprechen, wenn ihre essentiellen Funktionen gefährdet sind (Persönlichkeitsformung, Sozialisation der Kinder, ästhetisch-expressives Erleben), immer mehr lebensweltliche Bedürfnisse auf Konsum umgestellt werden, Fähigkeiten zur Kommunikation veröden. Eine solche (Wirtschafts-)gesellschaft untergräbt so ihre eigenen soziokulturellen Fundamente.

Das Programm der kommunikativ-ethischen Vernunft will möglichst weitgehend (auch ökonomische) Entscheidungen auf demokratische Willensbildungsprozesse stützen. Das meint nicht einfach Mehrheitsentscheide, sondern eine ständige Annäherung an eine sogenannte ideale Kommunikationsgemeinschaft, die unbeschränkt und unverzerrt dem besseren Argument den Vorrang gibt. Solcherart Kommunikation will natürlich erlernt sein, und das geht nur mit einer Entkolonialisierung der Lebenswelt.

Eine praktische Sozialökonomie hätte als großes Thema die Wiederankopplung des ökonomischen Systems an die Lebenswelt. Das Thema verlagert sich also von Fragen interner Systemeffizienz zu den akuten externen Effekten der industrie-gesellschaftlichen Systemrationalisierung. Sie würde die Trennung zwischen „wertfreier" Ökonomik und ergänzender Wirtschafts- und Sozialethik aufheben.

Peter Ulrich erläutert im folgenden Ansätze einer gerechten Verständigungs- und Verfügungsordnung, wobei die erstere immer den Vorrang haben soll. Damit aber die rationale Verständigung den Vorrang vor der faktischen Verfügungs-macht (z.B. über Großunternehmen) haben kann, müßte gesellschaftlich relevantes Eigentum neutralisiert werden (nicht enteignet!). Bei externen Effekten besteht praktisch eine Verfügungsmacht der Eigentümer über Nichteigentümer. In der Theorie der Verfügungsrechte (Coase-Theorem) können die Nichteigentümer nur Mitsprache erlangen, wenn sie ein attraktives Tauschgeschäft anbieten kön-nen (z.B. eine Geldzahlung zur Unterlassung von Umweltverschmutzung an den Verursacher).

Faktisch ist die Neutralisierung von Eigentum aber schon längst im Gange: in großen Aktiengesellschaften haben die Manager längst eine größere Machtfülle als die Aktionäre, ohne daß die Effizienz darunter leiden muß. Aber auch der staatliche Interventionismus begrenzt durch Auflagen, Kontrollen oder Lenkungssteuern die Verfügung über das Eigentum.
Als mögliche Eigentumsformen sieht der Autor kleine Personengesellschaften, mittlere Produktivgenossenschaften mit begrenzten individuellen Verfügungsrechten und Großunternehmen mit neutralisiertem Kapital, z.B. in Form einer Stiftung. Alle intern oder extern Betroffenen (also nicht nur die Mitarbeiter) erhalten spezifische Mitsprache- und Klagerechte. Sie haben weiterhin ein Interesse am effizienten Kapitaleinsatz – hiermit wird ein qualifiziertes Management beauftragt. Eine neue Form der Unternehmensführung (konsensorientiertes Management) setzt auf Partizipation und Problemlösung im Dialog.

Im abschließenden Kapitel denkt Peter Ulrich über die Veränderung von Arbeits- und Lebensformen nach. Kriterien des „guten Lebens" können nicht abschließend festgeschrieben werden, sondern bilden sich durch kommunikative Prozesse immer neu heraus. Die Lösung der Krise der Industriegesellschaft kann weder rein systemisch-technokratisch (Wirtschaftswachstum) noch rein lebensweltlich im Sinne einer Rückkehr zur Haus- und Dorfgemeinschaft sein. Vielmehr ist eine duale Lebensform notwendig, die sowohl die komsumptive Teil-nahme am System als auch die Autonomie vom System ermöglicht. Schon jetzt gehen viele „Insider" informellen Tätigkeiten außerhalb des Systems wie Haushalt, Nachbarschaftshilfe, kulturellen Ausdrucksmöglichkeiten u.s.w. nach.

Das Ziel muß es sein, solche basisnahen Gemeinschaftsbeziehungen zu aktivieren, u.a. um den aufgeblähten sozial- und wohlfahrtsstaatlichen Apparat auf seinen wesentlichen Aufgaben zu reduzieren, die besser zentral als dezentral geleistet werden können. Die Suche nach einer neuen Sozialpolitik wäre also die Suche nach einer neuen Balance zwischen staatlichen Sozialsystemen und lebensweltlichen Autonomie- und Selbsthilfekapazitäten.

Der sozialphilosophische Ansatz des Autors ist in wesentlich von Jürgen Habermas geprägt. Zum Teil ist das der Sprache des Buches anzumerken – oft-mals ein etwas umständlicher Jargon. Mich hat dieser grundlegende Versuch einer Neuinterpretation der Kriterien lebenspraktisch vernünftigen Handelns unter „philosophischem", d.h. nicht-selektivem, nicht-spezialisiertem Horizont trotzdem überzeugt. Eine Fülle von Literaturverweisen zu allen beschriebenen Themenkomplexen läßt es zu einer Fundgrube werden.

Der Autor macht sich wohl kaum Illusionen über die kurzfristige Umsetzbarkeit seiner Vorschläge, z.B. der Kapitalneutralisierung. Er versteht sie denn auch als regulative Ideen, die sich durchsetzen können. Wem diese Ideen dennoch zu uto-pisch erscheinen, dem gibt er einen schönen Satz mit auf den Weg (S. 429): „Die Welt der Zukunft ist der Welt der Vergangenheit noch immer unvorstellbar „fremd" erschienen."

Carsten Sprenger

Peter Ulrich: Transformation der ökonomischen Vernunft: Fortschrittsperspektiven der modernen Industriegesellschaft, Bern/Stuttgart 1986.
[Das Buch ist im Bestand der Bibliothek unserer Fakultät.]