Der Kapitalismus in einer Sackgasse?

Die ewigen Wahrheiten des Kapitalismus - Wachstum, Vollbeschäftigung, steigende Reallöhne, Walten der Marktkräfte - scheinen sich in der heutigen Welt Lügen zu strafen. Es muß sich etwas im Innern des Kapitalismus geändert haben. Was ist aber dieses „Etwas“? Welche Grundkräfte sind am Werk und erschüttern die globale politische und wirtschaftliche Ordnung? Welche neuen Spielregeln müssen wir einhalten, wenn wir Erfolg haben wollen? Welche Kräfte treiben die Wirtschaftsordnung in neue Richtungen?

Antworten auf diese und andere interessante Fragen sucht Lester C. Thurow in seinem Buch „Die Zukunft des Kapitalismus“. Thurow ist Professor für Wirtschaftswissenschaften der amerikanischen Renomieruniversität Massachusetts Institute of Technologie (MIT) und gilt als herausragender Wirtschaftsdenker unserer Zeit.

„Das Magma der Wirtschaft“

Makroökonomische Zusammenhänge sind ja im allgemeinen immer sehr komplex und recht schwierig zu kategorisieren. So ist es noch schwieriger, zukünftige, langfristige Trends im globalen Wirtschaftsgeschehen aufzudecken. Thurow greift auf die Geologie zurück und beschreibt das „Magma der Wirtschaft“ folgendermaßen: „In der Geologie bewegen sich die Kontinentalplatten durch die Strömungen im Magma, der Schmelze in der Erdtiefe.

Ähnlich schwimmen auch die fünf Tektonikplatten der Wirtschaft auf einer Flüssigkeitsmischung aus Technologie und Ideologie. Veränderungen innerhalb dieser Kräfte und Wechselwirkungen zwischen diesen Kräften führen zu den Strömungen, die die tektonischen Platten der Wirtschaft ineinander treiben.“ Tektonikplatte eins ist beschrieben mit dem Ende der Ära des Kommunismus. Für die Bevölkerung in den ehemaligen kommunistischen Staaten ergeben sich einschneidende  wirtschaftliche und ideologische Veränderungen.

„Global Village“

Die Tektonikplatten zwei und vier beziehen sich auf die Unternehmen, die aktiv am Wirtschaftsgeschehen teilhaben. Durch das sich in rasantem Tempo erweiternde naturwissenschaftliche und technische Wissen sind die Unternehmen an keinen naturgegebenen Standort mehr gebunden. Sie können sich überall auf der Welt niederlassen. Die Gesellschaft überläßt die Festlegung ihrer Wertvorstellungen fast völlig dem kommerziellen Markt und den Medien. Da dadurch der klassische Wettbewerbsvorteil nicht mehr als solcher besteht, sind die Unternehmen gezwungen, sich in dem „Global Village“ der elektronischen Vernetzung zu behaupten. Thurow schlußfolgert daraus, daß die Verflechtung der Weltwirtschaft immer mehr voranschreitet, regionale Handelsblöcke wachsen werden und der Graben zwischen global tätigen Firmen und nationalstaatlichen Regierungen immer mehr wächst.

Die dritte tektonische Platte Thurows ist die Demographie. Es entwickelt sich ein historisch völlig neuartiger Bevölkerungsaufbau. Die Weltbevölkerung nimmt in starkem Maße zu, wird mobiler und älter. Der Lebensstandard der Bevölkerung in den Entwicklungsländern im Vergleich zu den hochindustrialisierten Ländern divergiert immer mehr. Die große Zunahme der Zahl älterer Menschen bringt Investitionsprobleme mit sich. Investitionen sind aber unbedingt erforderlich, wenn die junge Generation wirtschaftlich erfolgreich sein und das Einkommen aufbringen soll, um die Renten und Krankenversicherung des Staates zu finanzieren.

Tektonikplatte fünf beschreibt die tiefgreifenden politischen Veränderungen. Die Wirtschaftswelt ist multipolar geworden, es entwickelt sich ein Zeitalter ohne dominierende Einzelmacht im politischen, wirtschaftlichen und auch im militärischen Bereich.
Inflation - ein erloschener Vulkan

Im folgenden beschreibt Thurow die Kräfte, die innerhalb dieses wirtschaftlichen Magmas wirken. Inflation, Faktorpreise, Lohngefälle, Qualifikation, Konjunkturzyklen, Schocks, religiöse Vulkane - all diese Kräfte bewegen die globale Wirtschaft in eine bestimmte Richtung oder zerren sie auseinander. Er resümiert, daß der Kapitalismus zunehmend auf Humankapital und wissensbasierte Technologien angewiesen ist. Dies ist besonders im Hinblick auf die im Moment sehr brisante Lage der Hochschulfinanzierung interessant. Bildung und Wissen werden zu den einzigen Quellen eines nachhaltigen Wettbewerbsvorteils. Ausgerechnet in dieser  Zeit entwickelt sich die allgemeine Ideologie in Richtung einer in bezug auf die Zukunft sehr schädlichen Form kurzfristiger individueller Konsummaximierung.

Die lebendigen Ausführungen, die zahlreichen Vergleiche und Beispiele machen dieses Buch zu einer interessanten Lektüre für Volks- aber auch Betriebswirte.

Thurow, Lester C. (1996) : Die Zukunft des Kapitalismus. Metropolitan Verlag, München, 530 Seiten, ca. 98,- DM

Diana Dressler