Die Börse – oder warum Hermes grübelt

Eine wahre Begebenheit

Vor nicht allzu langer Zeit, als Hermes noch in stolzer Pose aufrecht im Eingangsbereich unserer Fakultät gestanden hat, begab sich folgendes: Der Student X. aus Y., sonst eher verschlossen und ein bißchen knurrig, kam eines schönen Sommertages, mit sich und der Welt zufrieden, auf einen Cappuccino in die Mensa.

Normalerweise fehlt ihm dafür das Geld, aber heute, so nahm er sich vor, wollte er mal nicht knausrig sein. Der Grund für seine gute Laune hatte zweierlei Ursachen. Zum einen kam er nämlich gerade aus der Bibliothek, wo er, wegen zu langer Schlangen am Kopierer, die ihm notwendigen Seiten fein säuberlich aus einem Buch gerissen und einfach hatte mitgehen lassen. Selbst die nette Frau am Eingang hatte dies nicht bemerkt. Wie sollte sie auch, X. ist listig und läßt sich nichts anmerken.

Der zweite Grund für seine heutige Lässigkeit war Fortuna, die ihm in Gestalt der Studentin D. aus B., die zu dieser Zeit ihr Mittagessen in der Mensa beendete, entgegenkam. Sie bemerkte wenige Minuten später – für sie leider zu spät – daß sie ihre Geldbörse auf dem kleinen Beitisch in der Mensa schusselig liegengelassen hatte. Doch X. war schneller. Unbemerkt bemächtigte er sich des fremden Eigentums und verließ unauffällig den Ort des Glücks. Nachdem die Studentin D. alles versucht hatte, mögliche Auffinder ihrer Börse, auch Portemonnaie genannt, zu identifizieren, konnte sie sich von den netten Küchenfrauen und vom hilfreichen Pförtner nur noch bestätigen lassen, daß niemand das begehrte Objekt abgegeben hatte.

Groß waren ihr Erstaunen und ihre Bestürzung. Wer macht so etwas? Gibt es nicht einmal mehr ehrliche Studenten unter uns? Auch wenn man nicht zur Naivität neigt, kann man doch wohl hoffen, daß man seine komplette Ausweis- und Kartensammlung doch wiederbekommt, da diese einem Dieb nach sofortiger Sperre sowieso nichts nützen würden. Den Inhalt von circa zehn Mark in bar hat doch wohl keiner so dringend nötig, dachte sie und ging schweren Herzens nach Hause.

Eine Frage brachte auch mich zum Grübeln. Sind denn diese Börsendiebe von heute die Vorstandsvorsitzenden von morgen? Ich will es nicht hoffen! Da Diebe und Kaufleute hin und wieder in einer Person durch unsere heiligen Hallen laufen, wird auch Hermes ein wenig brauchen, um sich aus diesem Konflikt herauszugrübeln.

Und was Euch anbelangt, so könnt ihr denken, was ihr wollt.