Der Schatten des Diktators

Wenn dieser Artikel im Hermes erscheint, ist Pinochet möglicherweise schon wieder zu Hause und muß sich doch nicht vor einem Gericht für seine Greueltaten verantworten. Doch selbst dann war seine Verhaftung nicht umsonst.

„?Como te parece la detenciòn de Augusto Pinochet?“(Was meinst Du zur Verhaftung von Pinochet?), fragte mich Fenja mit aufgeregter und hoffnungsvoller Stimme als erstes beim gestrigen Anruf. Vor fast zwei Jahren verbrachten wir zusammen einige Wochen in Santiago, genügend Zeit, um etwas über den trügerischen Frieden eines immer noch gespaltenen Volkes zu erfahren.
Fenja ist die Tochter chilenischer Emigranten, die bis zur Abwahl Pinochets zu jenen 5000 Personen gehörten, die nicht nach Chile zurückkehren durften. Sie lebten kurzzeitig in der DDR, dann in Tunesien und schließlich einige Jahre in Frankreich. Die Liebe zu ihrem Land war so stark, daß sie kurz nach dem Ende der argentinischen Militärdiktatur nach Mendoza zogen. Hier waren sie nur noch durch die Anden vom heimatlichen Santiago getrennt. Nach der Abwahl Pinochets konnten sie endlich heimkehren. Fenja hatte bis dahin noch nie Chile gesehen und doch übertrug sich die Liebe der Eltern zu Ihrer Heimat auch auf sie. Wie alle Chilenen fragte sie mich nach meinen Eindrücken über Ihr Land aus und schwärmte von den herrlichen Landschaften und Sehenswürdigkeiten. Diese Heimatliebe ist an sich auch nichts Ungewöhnliches, wenn da nicht noch die anderen Erfahrungen gewesen wären, von denen sie mir berichtete. So wunderte ich mich über Ihren Bekanntenkreis, der aus Leuten bestand, denen ihre Umwelt egal war und die damit überhaupt nicht zu ihr paßten. Danach befragt, erzählte sie mir von Ihren Schwierigkeiten, als Emigrantentochter überhaupt Freunde zu finden. Die Angst, zu den Widerständlern gezählt zu werden, war zu groß. Ich konnte Ihr das nie so recht glauben und an diese Diskussion zurückdenkend gestehe ich jetzt gern ein, daß ich damals überhaupt noch keine Ahnung von der Situation Ihres Landes hatte. Sicher wußte ich, daß es eine grausame Diktatur unter Pinochet gab. Aber daß er zu der Zeit immer noch Chef der Streitkräfte war, geschweige denn, daß diese Angst vor Repression noch so groß war, das ahnte ich nicht. Als Rucksackler durch Chile reisend genoß ich die großartige Gastfreundschaft. Die Menschen erschienen mir alle freundlich und offen und dieser Eindruck übertrug sich auch auf meine Einschätzung über die Situation dieses Landes. Einige merkwürdige Dinge waren schon wahrzunehmen, jedoch fehlte mir die Sensibilität oder einfach nur das Wissen über die Geschichte Chiles.

Da war zum Beispiel die Familie aus Valdivia im Süden Chiles, die mich, wie ein eigenes Kind in ihr Haus aufnahm. Wir machten gemeinsame Exkursionen, gingen zusammen aus und diskutierten nächtelang über die Situation in Europa, über das vereinigte Deutschland oder ganz allgemein über unsere Lebensläufe. Wenn ich dann jedoch die Frage nach der Zeit der Diktatur stellte, so wichen sie mir aus. Nur unter vier Augen erzählte mir Gloria, eine junge Mitbewohnerin im Haus meiner Freunde, wie sie in der „NO-Kampagne“ zur Abwahl Pinochets heimlich Plakate klebte und über die Freude, als er endlich gehen mußte. Arlene, die Mutter der Familie, erklärte mir dagegen, wie konfus die wirtschaftliche Situation unter Allende war und daß es Ihnen unter Pinochet besser ging, auch besser als unter dem heutigen Präsidenten Frei. Das Ausweichen auf die Frage nach der Diktatur und der Verweis auf die wirtschaftliche Situation sollten mir in der Zukunft noch öfter begegnen. Daß die Opfer zwar bedauerlich seien, aber sich unter Pinochet die wirtschaftliche Situation stabilisierte, war unter den wenigen darauf erhaltenen Antworten die, welche man am häufigsten hören konnte.

War die Wirtschaftsentwicklung der 70er bis Anfang der 80er Jahre noch geprägt von sich abwechselnden Perioden der Hyperinflation und Rezession, folgte in den letzen Jahren der Diktatur eine relativ lang anhaltente Phase von wirtschaftlichem Wachstum und Stabilität. Die Angst, erneut in eine Krise zurückzufallen ist verständlicherweise groß. Wahrscheinlich vertraute auch Pinochet auf diese Ängste, als er sich 1989 freien Wahlen stellte und zur eigenen Überraschung den Hut nehmen mußte. Doch der Preis, den die Chilenen für einen friedlichen Übergang zur Demokratie zahlten, ist hoch.

Bis heute ist der politische Einfluß Pinochets, bis letztes Jahr noch als Heereschef und jetzt als Senator auf Lebenszeit, gewaltig. Richter, Lehrer, Polizisten sind oft noch die gleichen, wie zur Zeit der Diktatur. Wirtschaftlich geht es Chile besser als den meisten Nachbarn. Doch auch wenn die, von den „Chicacoboys“ konsequent durchgesetzte neoklassische Wirtschaftspolitik (Austeritätsprogramm) scheinbar zur Stabilität der letzten Jahre beitrug, teilte sie doch das Land in eine Zweidrittelgesellschaft. So findet man Nobelviertel in Santiago, die sich im vorgezeigten Reichtum leicht mit gleichartigen Gegenden deutscher Städte messen können. Daß in Provedencia, einem solchen Bezirk, der Bürgermeister die Abholung des Mülls englischer Botschaftsangestellter verweigert, kann da nicht verwundern.
Es gibt aber auch jene, die an dem Wohlstand der letzten Jahre nicht teilhaben konnten. Ich erinnere mich noch sehr gut an die vielen sauber und gut gekleideten Frauen und Männer, die jede Nacht in Santiago die Müllsäcke nach nützlichen, noch verwertbaren Sachen durchsuchten. Aufgrund eines Unfalls hatte ich auch die Möglichkeit, einige Einblicke ins chilenische Sozialwesen zu erhalten. Die Krankenversicherung ist privatisiert, so daß das persönliche Vermögen über die Qualität der Behandlung entscheidet. Als Folge daraus entstanden Nobelkliniken mit Marmorfußböden und Großfernseher im Wartesaal, sowie neuester Technik und ausreichend, gut bezahltes Personal in den Behandlungsräumen. Dagegen verbrachte ich auch eine Nacht im Armenkrankenhaus, wo man für die Patienten weder Seife zum Waschen, noch Krücken bei Beinbrüche bereitstellen konnte. Das Frühstück bestand aus einem Krug Wasser und etwas Brei und die Hauptaufgabe der Krankenschwestern war es, aufzupassen, daß kein Patient vor der Bezahlung das Haus verläßt.
Im Gegensatz zu anderen Ländern findet man in Chile kaum Widerstand und öffentliche Kritik gegen solche Zustände. Die Sorge um ein stabiles Wirtschaftswachstum und die immer noch vorhandenen Ängste vor politischer Repression machten das Schweigen über die Vergangenheit und das kritiklose Hinnehmen der sozialen Aufspaltung in der Gegenwart zum gesellschaftlichen Konsens, daß, was Pinochet jetzt mit „innerer Aussöhnung“ betitelte.

Die zurückgekehrten Emigranten und die sich damit aufdrängenden Fragen nach einer Aufarbeitung der Vergangenheit wirken da eher störend. Man will in Frieden gelassen werden Viele Chilenen hatten sich außerdem mit dem Regime arrangiert, so daß sie ungern auf solche Fragen angesprochen werden. „Wir mußten das hier durchstehen, während Ihr euch in Euch in Europa Wohlstand schaffen konntet,“ ist ein, gegenüber Emigranten, häufig zu hörendes Argument. Daß dieser Frieden trügerisch ist und auch nicht gesund für die Entwicklung eines Landes sein kann, ist einleuchtend. Doch wie schwer eine Aufarbeitung der Vergangenheit ist, daß sollten gerade wir Deutschen wissen. Die Verhaftung Pinochets in England hat vielleicht geholfen, eine Auseinandersetzung mit der Diktatur in Chile in Gang zu setzen. In diesem Sinne hat Großbritannien den Chilenen einen guten Dienst erwiesen. Ob es gut für Chile ist, ihn hier in Europa abzuurteilen, kann man nur schwer beurteilen. Sicher wäre es ein Warnsignal an alle potentiellen oder aktuellen Diktatoren in der Welt.
Die Möglichkeit, Pinochet in Chile vor Gericht zu bringen, ist wegen der Befangenheit der Justiz fast aussichtslos. Damit werden die Forderungen seiner Opfer nur allzu verständlich, ihn hier in Europa einer gerechten Strafe zu überführen. Auch ich sympatisiere mit dieser Möglichkeit, zumal in einer Gerichtsverhandlung auch einige Fakten über die Beteiligung der USA und einiger europäischer Staaten am Putsch 1973 ans Tageslicht kämen. Auf der anderen Seite sollte aber auch nicht vergessen werden, daß man Pinochet so vielleicht als Märtyrer erscheinen läßt und man gleichfalls das Selbstverständnis Chiles als eigenständigen Staat in Frage stellt. Aber noch wichtiger als die Frage der Verurteilung erscheint mir im Augenblick, daß hoffentlich ein Ruck durch dieses Land geht und eine Diskussion in Gang kommt.
Im nächsten Frühjahr werde ich wieder dort sein und freue mich auf das Wiedersehen mit Fenja, mit meinen Freunden in Valdivia und auf die vielen und reichhaltigen Gespräche, dann vielleicht schon ohne die Tabus der Vergangenheit.

AS