Interview mit Prof. Gernert

Prof. GernertHermes: Lieber Herr Prof. Gernert, zum Ende dieses Semesters verlassen Sie unsere Fakultät...

Prof. Gernert: Das ist nicht so ganz richtig. Ich scheide offiziell mit der Erreichung des Rentenalters aus. Ich habe aber noch einen Lehraufrag für das Hauptstudium im Rahmen des Wahlpflichtfaches Wirtschaftsinformatik angenommen, um in der Lehre noch ein bißchen tätig zu sein. Im Rahmen der Workflow Managementsysteme werde ich so an meinem Forschungsschwerpunkt der letzten Jahre weiterarbeiten und den Kontakt zu Unternehmen in Berlin halten und ausbauen.

Hermes: Welcher Weg führte Sie an die Humboldt-Uni und wann entdeckten Sie Ihre Vorliebe für Informatik?

Prof. Gernert: Im Jahre 1953 begann ich in diesem Hause ein Ökonomie-Studium, das ich mit dem Diplom jedoch in Leipzig abschloß. Damals kannte keiner das Wort Informatik, geschweige denn Computer. Weil ich Betriebswirtschaft studiert hatte, ging ich in einen Schwermaschinenbaubetrieb nach Magdeburg. Ich hatte schon immer Freude an weißen Flecken in der Welt des Wissens und so beschäftigte ich mich mit der Lochkartentechnik innerhalb der Organisationstechnik. Ich war dann Leiter dieser Stabsabteilung und baute z.B. die gesamte Lochkartentechnik in Wildau auf (in diesem Moment kramt Prof. Gernert in seinem Schrank und holt einen Stapel vergilbte Karten mit rechteckigen Löchern und seltsamen Zeichen heraus). Das war der Beginn des Weges zum Computer. Später wurden dann rechnergesteuerte Lochkartenmaschinen zur Massendatenverarbeitung in der Buchhaltung eingesetzt.

Hermes: Gab es auf dem Weg dahin Widerstände?

Prof. Gernert: Aber natürlich. Organisatorische Veränderungen waren heute wie damals schwierig. Die Arbeitsplatzvernichtung war ja in der DDR nicht so problematisch, aber die Widerstände, auch von Führungskräften in anderen Abteilungen, waren natürlich da. Wenn ich denen meine Ablaufgrafiken und Verbesserungsvorschläge vorlegte, stieß ich nicht selten auf Ablehnung.
Nebenbei machte ich ein Promotionsstudium und kam 1968 wieder hierher, um meine praktischen Erfahrungen theoretisch zu verwenden. Dies war natürlich nicht immer einfach. Sicherlich gab es westliche Fachzeitschriften und es wurden auch Computer importiert, Schwierigkeiten gab es jedoch durch die sog. COCOM-Liste, die Exporte bestimmter Produkte oder Bauteile in den Ostblock verbot. Bestimmte Maschinen waren zwar befreit, Ostdeutschland hatte aber keine eigene Computerindustrie. Es gab Anfänge in Jena zur Programmierung optischer Geräte, das wurde dann aber eingestellt. So bekam ich keinen eigenen Computer und wandte mich der Uni zu, machte meine Promotion am Institut für Statistik (Wirtschaftsinformatik gab es noch nicht). Im Laufe der Zeit entwickelte sich dann doch einiges, ich baute einen großen Computersaal mit mehr oder weniger russischen Computern auf (die Russen bauten die Zentraleinrichtung, die Bulgaren die Festplatten und die Deutschen die Tastaturen und Peripheriegeräte). Es waren großen Zentralrechner mit „dummen Bildschirmen“ als Ferneingabegeräte.

Hermes: Wie entstand dann der Lehrstuhl Wirtschaftsinformatik?

Prof. Gernert: Zu Beginn gab es nur das Fach elektronische Datenverarbeitung, dann Informationsverarbeitung, dann Wirtschaftsinformatik. Wir haben über die Wende hinweg die gleichen Vorlesungen gehalten. Der einzige Makel (daß wir nicht auf dem neuesten Stande der Rechentechnik waren) wurde mit Hilfe von IBM schnell beseitigt. Die haben ein deutsches Programm zur Entwicklung von Rechenzentren für die Lehre gestartet, und so wurde der damalige Computerraum 128 mit 25 vernetzten modernen PC’s ausgestattet.

Hermes: Damals (1990) hatten wir eine bessere Ausstattung als das Hauptgebäude.

Prof. Gernert: IBM brauchte sogar noch eine Ausnahmegenehmigung für die COCOM-Liste. Fünfzig Prozent der Ausgaben wurden gesponsort.

Hermes: Haben alle Professoren nach der Wende nicht erstmal ihren Job verloren?

Prof. Gernert: Ja, vorher war ich Hochschuldozent mit dem Titel außerordentlicher Professor, jetzt mußte man sich auf die neu ausgeschriebenen Lehrstühle wieder bewerben. Der Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik war international ausgeschrieben, es gab eine C3 und eine C4-Stelle. Ich bewarb mich auf die C3-Stelle, da ich den Lehrstuhlvorsitz doch lieber einem jüngeren überlassen wollte. Mein Vortrag beim „Vorsingen“ war über die Simulation ökonomischer Prozesse.

Hermes: Herr Prof. Günther bekam dann die C4-Stelle. Wie kommen sie mit einem 30 Jahre jüngeren „Chef“ aus?

Prof. Gernert: Ich muß sagen, daß Herr Prof. Günther den neuen Lehrstuhl mit sehr viel Einfühlungsvermögen und Verständnis aufgebaut hat. Sicher herrschte am Anfang eine unklare Situation. Ich habe mich jedoch zurückgehalten und er hat mir auch große Entscheidungsfreiheit gegeben. Unsere Forschungsgebiete sind komplementär und ergänzen sich gut, aber auch menschlich hat sich eine nette persönliche Atmosphäre entwickelt.
Das schönste, was ich mir denken kann ist, wenn man nicht mehr sagen kann, wer aus dem Westen oder dem Osten kommt.

Hermes: Sie sind bei den Studenten sehr beliebt. Was ist ihr ‚Erfolgsrezept‘?

Prof. Gernert: Wirklich? Ich denke, das liegt daran, daß meine Tür immer offensteht. Jeder ist willkommen, egal, mit welcher Art von Problem ein Student zu mir kommt.

Hermes: Was machen sie in der Zeit nach der Uni?

Prof. Gernert: Ich gehe seit Jahren gern durch alte Gemäuer. Bürgerhäuser, Kirchen, Klöster und Burgen üben eine Faszination aus, da ich sehr gern reise und mich für Architekturgeschichte interessiere. Ich werde aber auch meinen Garten pflegen, so gut ich kann. Vielleicht schreibe ich mich auch an einer von Berlins Universitäten als Student ein ...

Das Gespräch führten Diana Dressler, Gari Walkowitz und Zeno Enders.