Rat der Götter

hermes „Gott der Gerechten ...“, dachte Maria während sie aus dem Fenster sah, „wird diese Zankerei denn nie ein Ende nehmen?“

Eigentlich waren Master-Bachelaurus und der kleine Nachbarjunge Diplomus immer gute Freunde gewesen, aber in letzter Zeit verging kaum ein Tag, an dem es nicht Streit um die eine oder andere Kleinigkeit gab.

„Das ist meine Schiefertafel“, hörte Maria Diplomus jammern. Aber Master-Bachelaurus weigerte sich, dem Nachbarjungen sein rechtmäßiges Eigentum zurückzugeben. „Selbst, wenn es deine Tafel ist, so gehört sie doch mir, weil ich nämlich ein Gott bin und du nicht!“, entgegnete Master-Bachelaurus. „Ist mir doch egal,“ sagte Diplomus, „wenn du einer von ihnen bist, warum kümmern sich die Götter dann nicht um dich? Außer Wikus habe ich hier noch niemanden gesehen.“ Diplomus hatte recht, mußte Master-Bachelaurus sich eingestehen. Was war geblieben von all den vollmundigen Versprechungen? Josef, sein Ziehvater, hatte Maria im Stich gelassen, und auch Wikus schickte nur sein jährliches Paket mit Caramelbonbons. „Die Götter sind eben beschäftigt.“ antwortete Master-Bachelaurus. Diplomus reagierte aufgebracht: „Was hat ein Gott denn schon zu tun? Mein Vater sagt, daß einzige, was Götter tun, ist sich Gedanken zu machen, wie sie die nächsten Wiwianischen Spiele noch grausamer machen können.“ Master-Bachelaurus’ Stimme zitterte als er sagte: „Du lügst!“ „Wenn du es mir nicht glaubst, dann komm doch mit zum Olymp und schau dir an, was die Götter so treiben.“ „Einverstanden!“, erwiderte Master-Bachelaurus. Und so machten sich die beiden Knaben auf den Weg zum Olymp. Der Weg zum Sitz der Götter war beschwerlich, steinig und gefährlich. Auch wußten die beiden nicht, ob sie überhaupt den richtigen Pfad eingeschlagen hatten, denn kaum einer der gemeinen Wiwianer kannte den Weg zu den Göttern. Nur wenige hatten sich bisher bis zum Olymp vorgewagt. Diejenigen, die lebendig zurückkehrten, waren verändert und sprachen nicht über das Erlebte. Master-Bachelaurus und Diplomus irrten durch die Wälder, bis sie einem alten Mann begegneten, der sich bereit erklärte, ihnen den Weg zu zeigen. Dieser alte Mann war kein anderer als Hermes, der sich verkleidet hatte, um die beiden Jungen unerkannt zum heiligen Sitz der Götter zu bringen. Zwei Tage lang quälten sich die drei durch Sturm, Wind, Blitz und Donner bis sie endlich ihr Ziel erreichten.

Die Götter hatten ihren Götterrat bereits begonnen. Nur mit Mühe fanden Hermes, Diplomus und Master-Bachelaurus einen geschützten Platz hinter einem Olivenbaum. Von dort aus sahen sie dem Spektakel zu. Wie sie dort alle so saßen, hatten sie fast menschliche Züge an sich. Einige schliefen, andere unterhielten sich mit ihren Nachbarn.

Der Vorsitzende des Götterrates, Ökonometrikus, Gott der Matrizen, eröffnete den heiligen Reigen. Nach einer geraumen Zeit höflichen Geplänkels, in der der eine Gott dem anderen gelegentlich auf die Schulter klopfte, begann die eigentliche Sitzung. Inzwischen hatten Master-Bachelaurus und Diplomus auch einige Wiwianer entdeckt, die von Zeit zu Zeit versuchten, sich gegen die Göttergewalt aufzulehnen. Aber es schien alles vergebens. Die Götter hingegen gestikulierten und diskutierten, manchmal, so schien es Diplomus, auch über Dinge, von denen sie nichts zu verstehen schienen:

Zum 367. Mal stand das Lex Wiwianus auf der Tagesordnung, jenes Gesetz, das im wesentlichen die Modalitäten der Wiwianischen Spiele regelte. Einst hatte sich eine Untergruppe gefunden, die versucht hatte, die gegensätzlichen Standpunkte zu vereinen. Jede Interessengruppe hatte seinerzeit einen Vertreter entsandt, aber plötzlich schien sich eine der Statusgruppen auf keinen Fall mit dem einmütigen Gesetzesvorschlag der Gruppe einverstanden erklären zu können. Man fühlte sich übergangen und unverstanden. Und so wurde das Lex Wiwianus zum 367. Mal vertagt. Master-Bachelaurus wurde hellhörig, denn nun ging es um ihn. Er glaubte seinen Ohren kaum trauen zu können, als man über ihn als einen „Halbgott“ sprach: Er stamme schon von einem Gott, aber andererseits hatte er eine sterbliche Mutter, was es den Göttern erschwerte, ihn als einen der ihren anzuerkennen. So einigte man sich auf den Kompromiß, Master-Bachelaurus als einen Wiwianer zu betrachten, der den Göttern zwar gleich, aber dennoch anders war. Master-Bachelaurus war vollends verwirrt, als die Göttin der Finanzen den Stein ins Rollen brachte, als sie sich weigerte, den jungen Messias im Erbsenzählen zu unterrichten. Nun plötzlich erinnerte man sich, daß man einst den jungen Messias in die hohe Kunst des Erbsenzählens einweisen wollte, doch bis heute wußte Master-Bachelaurus nicht einmal, wie eine Erbse aussah. Man schob sich gegenseitig den schwarzen Peter zu, doch keiner fühlte sich verantwortlich, obwohl sie einst Wikus’ Idee, einen Messias zu erschaffen, begeistert zugestimmt hatten. Und so einigten sich die Götter des Erbsenzählens letztendlich, sich zu einigen, um eine Einigung zu finden. Ökonometrikus nahm es zur Kenntnis und ward zufrieden. Nur leider hat Master-Bachelaurus mit dem Erbsenzählen noch heute seine Schwierigkeiten.

Sodann brachte ein anderes Thema die Gemüter zum Kochen. Hera hatte einst befohlen, den Weibchen des wiwianischen Stammes Lesen und Schreiben beizubringen. Und ihrem Willen konnten sich die Götter, auch wenn sie gewollt hätten, nicht widersetzen. So war eine gemeine Wiwianerin ausgesucht worden, deren Aufgabe es war, die Zahl der lesenden und schreibenden Weibchen zu ermitteln. Hermes hatte sie zum Olymp geleitet, damit sie dem Götterrat das Ergebnis offerieren konnte. Ein Murren ging durch das Rund. Konnte es wahr sein? Hatte sie allen Ernstes die Weibchen nicht mitgezählt, die zwar lesen aber nicht schreiben konnten? Und überhaupt die Forderung nach einer kleinen Hütte, einer Feuerstelle und einem Schatten spendenden Baum, in der sie leben konnte – gab es etwa einen Grund anzunehmen, daß die Götter dies einer gemeinen Wiwianerin nicht zugestehen würden?

Der Tag neigte sich dem Ende und für Master-Bachelaurus und Diplomus war es Zeit zu gehen. Hermes begleitete die beiden noch bis zum Fuß des Götterhügels. Langsam verschwanden die Kindergestalten am Horizont. Aus der Ferne glaubte Hermes zu erkennen, wie einer der Jungen dem anderen eine Schiefertafel gab.

Claudia

Anmerkung: Parallelen mit ähnlichen Räten in unserer Fakultät sind selbstverständlich rein zufällig und vom Verfasser so gewollt.