Utility-Futility

Professor Reinhard Selten, geboren 1930, nahm im Februar an einem vom Lehrstuhl für Finanzwissenschaften organisierten Workshop über Bounded Rationality an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität teil. Professor Selten ist gemeinsam mit John F. Nash und John C. Harsanyi Träger des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften, der ihm 1994 aufgrund des von ihm aufgestellten Konzepts der teilspielperfekten Nash-Gleichgewichte (Subgame-Perfect Nash-Equilibria) zuerkannt wurde. Neben der Spieltheorie liegt sein Forschungsinteresse allerdings in der experimentellen Untersuchung der Rationalität von Entscheidungsprozessen, wobei er nachweisen konnte, das perfekte Rationalität bei realen Entscheidungen nicht beobachtet werden konnte. Stattdessen bevorzugt er in diesem Kontext die Verwendung des Begriffes ´beschränkte Rationalität´, der im Rahmen dieses Workshops diskutiert werden sollte. Weiterhin kennt man Herrn Selten vom gleichnamigen Chain-Store-Paradox, sowie von seiner gleichnamigen „four are few and six are many“-Hypothese bezüglich der notwendigen Marktgrößen bei Kartellen.

Das Hermes-Team ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, Herrn Selten während des Verspeisens der Mittagsimbiss-Schnittchen ein paar Fragen zu stellen:

Hermes: Hätten Sie den Nobelpreis für möglich gehalten?

Reinhard Selten: Möglich? Ich habe eigentlich nicht damit gerechnet.

Hatte der Nobelpreis großen Einfluss auf Ihr Leben?

Es hat natürlich einen gewissen Einfluss, aber ob das so wichtig war? Das bedeutet auch, dass man sehr viel mehr genötigt beziehungsweise überredet wird noch eine Reise zu machen.

Sie haben den Nobelpreis für das Konzept der teilspielperfekten Nashgleichgewichte bekommen, was die Existenz von Nutzenfunktionen mit bestimmten, relativ restriktiven Annahmen impliziert. Gleichzeitig betonen Sie innerhalb ihres Bounded-Rationality-Ansatzes die Inkonsistenz des Ansatzes der Nutzenmaximierung. Wie erklären Sie diese Diskrepanz?

Diese Diskrepanz ist meiner Meinung nach nicht vorhanden, obwohl das viele Leute ähnlich sehen. Der Anlass für mich, dass Problem der Teilspielperfektheit zu erforschen, war eigentlich eine experimentelle Arbeit von der ich schon vorher wusste, dass das Ergebnis ein anderes sein würde. Ich habe das eigentliche Spiel, ein Oligopolmodell mit Nachfrageträgheit etwas vereinfacht, wobei mir schon vorher klar war, dass ein Widerspruch zwischen Theorie und Empirie auftreten wird. Es ist sehr wichtig zu wissen, welche Implikationen die rationale Theorie hat. Wenn man eine andere Theorie aufbauen will, muss man sich damit auseinandersetzen.

Also lässt sich das Konzept der teilspielperfekten Gleichgewichte jetzt im Rahmen ihres Bounded Rationality-Ansatzes eher eingeschränkt benutzen?

Es kommt drauf an. Wenn es um relativ einfache Fragestellungen geht, bei denen keine Motivationsprobleme auftauchen, lässt sich das Konzept problemlos anwenden. Aber man sieht auch, dass es sehr begrenzt wirksam ist. Es gibt durchaus Situationen in denen das auch experimentell herauskommt. Nur das Experiment kann darüber Auskunft geben, wo sich solche Konzepte bewähren. Die Spieltheorie, so wie sie jetzt ist, wird nicht einfach ersetzt durch etwas anderes, sie wird nur modifiziert. In gewissen Fällen wird das auch weiterhin einsetzbar sein. Der Begriff ist beispielsweise auch in der Biologie einsetzbar. Er hat also auch da Erfolge gehabt und dort geht es ja nicht um Rationalität. Es geht um natürliche Selektion, die unter Umständen auch zu Teilspielperfektheit führt. Ich habe immer über eingeschränkte Rationalität nachgedacht, bin dabei aber nicht soweit gekommen wie mit der idealen normativen Theorie.

Also würden sie das Konzept der Teilspielperfektheit eher als Nebenprodukt ihrer Forschungen interpretieren?

Nicht als Nebenprodukt. Ich bin ehrlich auch an der rationalen Theorie interessiert. Aber nicht mit der Erwartung, dass sie wirklich das tatsächliche Verhalten in der Realität exakt beschreibt.

Welches Buch würden Sie für eine Mikroökonomie-Grundstudiumsveranstaltung empfehlen?

Also das ist ja jetzt wirklich schwierig! Ich meine in einer Mikro-Grundstudiumsveranstaltung muss man die herrschende Lehre der Mikrotheorie darstellen. Man muss also die Nutzentheorie darstellen. Da kann man natürlich den Varian oder so was nehmen. Man kann darauf hinweisen, dass es auch andere Auffassungen davon gibt, aber es muss dem Studenten einmal das nahe bringen wovon die Literatur voll ist, sonst können sie sich mit anderen Leuten gar nicht unterhalten. Insofern muss man die traditionelle Lehre vorstellen. Ich hab das in meinen Vorlesungen ja auch gemacht.

Wo sehen Sie die interessantesten und auch vielversprechensten Forschungsschwerpunkte in der Mikrotheorie?

Ich glaube, die Mikrotheorie sollte restrukturiert werden. Und zwar sollte man realistischere, angemessenere Theorien des Haushalts und der Unternehmung finden. Die Bausteine dazu sind da. Es gibt bereits solche Theorien, die im Wesentlichen auf drei Ansätzen beruhen: die traditionelle Gewinnmaximierungstheorie, die Managementtheorie der Unternehmung, welche davon ausgeht, dass die Beschäftigen das Ziel der eigenen Gewinnmaximierung haben und das Management andere Ziele verfolgt. Und als drittes gibt es die Verhaltenstheorie der Unternehmung - da wird die eingeschränkte Rationalität bestimmt. Die zwei Variablen dabei, die eingeschränkte Rationalität und der Zweck, also im Prinzip organisatorische Ineffizienz, sind von ganz großer Wichtigkeit. Es wird meistens nicht richtig modelliert. Man sollte dieses Fach neu betrachten, ohne überall die bereits bekannten theoretischen Konzepte reinzubringen.

Man solle nicht darauf Wert legen, an Sachen zu forschen, die möglichst leicht publiziert werden können und daher nur kleine Änderungen an bestehenden Konzepten vornehmen. Also mir war das eher egal, ich wollte das einfach machen, ohne darauf Wert zu legen, ob es publiziert werden würde. Allerdings war damals der Wettbewerb noch nicht so stark, die Situation war etwas einfacher. Außerdem ist man ja mit abweichenden Ansätzen relativ erfolgreich. Die heutigen Forscher überschätzen das Risiko solcher Ansätze, denn damit wird auch das Interesse geweckt und Aufmerksamkeit erregt.

Wie stehen Sie zu Versuchen, neue Ausdrücke für Präferenzen zu finden beziehungsweise Neuformulierungen von psychologischen Erkenntnissen, die schon seit 20 - 30 Jahren existieren, in ökonomische Modelle zu integrieren?

Das ist auch vernünftig und wäre ja schon so ein bisschen Restrukturierung.

Aber wenn man solche psychologischen Phänomene in die Nutzenfunktionen integriert, bleibt dann nicht trotzdem das Problem, dass diese Nutzenfunktionen nicht aggregiert werden können?

Also ich würde ja das Instrument der Nutzenfunktionen völlig vermeiden. Anspruchsanpassung würde ich als Alternative anbieten. Man ist auf die Nutzenfunktion nicht angewiesen. Ich finde die Nutzentheorie hat sehr viel Unheil angerichtet, weil die Forscher an die ökonomischen Probleme nur noch mit Scheuklappen herangehen. Wenn man die Nutzentheorie vermeidet, bekommt man einen offeneren Blick für die Probleme.

Würden Sie jungen Leuten empfehlen hier oder in den USA einen Doktortitel zu erwerben?

Das ist in erster Linie abhängig, bei wem sie das machen wollen und nicht von den Programmen.

Sie halten also die amerikanischen PhD-Programme mit ihrer anfänglich stark quantitativen und theoretischen Ausrichtung für nicht ausschlaggebend?

Solche Programme gibt es auch in Deutschland, zum Beispiel bei uns in Bonn. Wichtiger erscheint mir allerdings die richtige Betreuung zu sein und dabei muss man zunächst herausfinden, was man will und wo die entsprechenden Personen sind. Amerika ist nicht unbedingt besser. Sie können ja auch nach Frankreich oder Schweden oder meinetwegen auch nach Australien gehen. Man hat manchmal auch bessere Chancen woanders, da man den Vorteil hat, dass die Bewerberanzahl nicht so hoch ist. Allerdings kommt es immer darauf an, dass Sie wissen, in welchen Bereich sie wollen und dann müssen sie die richtige Person dazu finden.

Ihre Folien vorhin waren handgeschrieben und so schön bunt - ist das eher pädagogisch oder aufgrund schlechter Computer-Erfahrungen?

Ich habe gar keinen Computer. Nur im Laboratorium haben wir massenhaft Computer und benutzen die auch nur für Experimente. Aber zu Hause hab ich keinen. Ich hab auch keinen Anschluss an das Internet. Keine E-mail Adresse. An der Universität schon, aber zu Hause möchte ich keine haben, denn ich kenne Leute die täglich eine halbe oder gar eine Stunde dasitzen, nur um E-mails zu löschen. Ich bekomme genug Post, die zum Wegwerfen ist. E-mails dann auch noch, dazu hab ich keine Lust. Wenn ich mir einen Computer kaufe, werde ich auch kein E-mail benutzen.

Es wurde beobachtet, dass Sie egal bei welchem Wetter immer einen Regenschirm dabei haben. Stimmt das?

Das hat lange Zeit in meinem Leben gestimmt. Jetzt nicht mehr, weil meine Frau im Rollstuhl sitzt und wenn ich den Rollstuhl schiebe, kann ich keinen Regenschirm halten.

Woran lag es früher?

Eine Vereinfachung des Lebens. Ich hab ihn früher häufig mitgenommen, mal hat es geregnet dann hat die Sonne geschienen und dann hab ich ihn vergessen. Und wenn ich ihn immer mitnehme, kann ich ihn auch nicht vergessen. Außerdem brauch ich dann auch nicht mehr nachzudenken ob es Sonne oder Regen geben wird. Außerdem kann ich damit angenehm laufen.

Wir danken Ihnen für das Gespräch!


Das Interview führten Jörg Franke, Ralf Steinhauser und Ulrike Swientek