Einer von uns

Das Semester war noch jung am 14.4.2004 und trotzdem oder gerade deswegen fanden sich neben zwei Dutzend Pressevertretern und geladenen Gästen auch viele Studierende pünktlich um 10 Uhr im Raum 201 ein, um zu lauschen, was ein ehemaliger Fußballnationalspieler den Studenten zu sagen hatte. Nachdem im letzten Sommersemester Dr. Horst Köhler über die Herausforderungen der Globalisierung und die Rolle des IWF sinnierte und ein Semester später Finanzminister Eichel versuchte, seinen überaus erfolgreichen „Kurs zu mehr Wachstum“ zu erläutern, trat nun Oliver Bierhoff an, um dem geneigten Zuhörer zu vermitteln, was die Gesellschaft vom Sport lernen könne.

Den Anpfiff für 40 Minuten Unterhaltung gab Professor Schwalbach, der dem BWL-Absolvent der Universität Hagen bescheinigte, „einer von uns“ zu sein und sich sicher war, dass Bierhoff sich bei der Wahl des Studienortes heute auf jeden Fall für Berlin ent­scheiden würde, was dieser bestätigte. Schließlich sei Berlin „die rockigste Stadt“ und auch die Chancen bei Hertha BSC zu spielen, wären mittlerweile wohl nicht schlecht. Die Stimmung im Saal war gut.

Bierhoff freute sich, nach 26 Semestern Fern-Uni endlich mal an einer Präsenz-Uni zu sein und begann, lächelnd wie in guten alten Joghurt- oder Shampoo-Werbespots, seinen Vortrag. Schnell stellte er fest, dass sich vieles ändern müsse, doch solle niemand ein Allheilmittel zur Genesung der allgemeinen Missstimmung erwarten. Vielmehr wolle er darlegen, welche Parallelen es zwischen Sport und der Ge­sellschaft gibt. Spätestens zu die­sem Zeitpunkt ahnten die Ersten: Deutschland ist eine große Fußballmannschaft.

Der Redner wollte gerade damit beginnen die wichtigen Schlüsselbegriffe zu erläutern, als von der Empore rosa Zettel flattern, auf denen die Ideen der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ als „neoliberaler Rollback im Zuge von Agenda 2010, Hartz und Rürup“ kritisiert wurden. Etwas irritiert sprach Bierhoff weiter: „Jeder von Ihnen wird mir zustimmen...“ Unglücklicherweise begann genau in diesem Moment jemand kleine bunte Plastikbälle auf den Europameister von 1996 zu werfen. In den gehetzten Gesichtern der Veranstalter erkannte selbst der Laie sofort, dass es sich hier um ein grobes Foulspiel handelte, und so dauerte es keine zehn Sekunden, bis der Störenfried von zahlreichen Fotografen, dem RBB-Kamerateam und den Leuten von der Security umringt war. Bierhoff bot diplomatisch an, dass man doch hinterher über alles reden könne und las weiter.

Er erläuterte, wie wichtig Leistungsbereitschaft sowohl im Sport als auch in der Gesellschaft sei und stellte fest, dass in Deutschland Leistung für viele den Anschein des Unsozialen hätte.

Plötzlich schallte es von der Empore „Hören sie bitte auf damit!“. Sprach da etwa gerade einer aus, was alle dachten? Ungläubiges Gemurmel unter den Zuhörern und der Blick nach oben sorgten für Klarheit. Es ging nur gerade einem weiteren Protestler, der ein Plakat mit dem Text: „Neue Soziale Marktwirtschaft - total balla balla“ ausgerollt hatte, an den Kragen. Rote Karte und Platzverweis! Unterdessen las Bierhoff stockend weiter das vor, was nun laut seinem Manuskript dran war: „Der Stärkere unterdrückt den Schwächeren. Das ist nicht fair.“ Dass der Unterhaltungswert der ganzen Veranstaltung auf diese Weise nur noch mehr gesteigert wurde, versteht sich von selbst, und nachdem die ersten zwanzig Minuten so heiter verlaufen sind, freuten sich alle auf eine zweite, hoffentlich ebenso spannende Halbzeit.

Diese verlief dann aber zunächst relativ ruhig. Mit weiteren Ausführungen über Wettbewerb, Teamgeist, Fairness und Leadership ermahnte er die Politik zu mehr Reformbereitschaft und die Gesellschaft zur Akzeptanz derselben. Gegen Ende der Veranstaltung kam es dann noch zu Angriffen und Herr Bierhoff hatte einiges an Verteidigungsarbeit zu leisten, als ihn ein Student wissen ließ, dass er heute ein Totalausfall gewesen sei und ein anderer seinen Vortrag als schwammig bezeichnete und konkrete Lösungsvorschläge forderte. Damit konnte der Ex-Fußballstar und Werbeliebling nicht aufwarten. Ebenso blieb die Frage nach einem Trainerwechsel in Deutschland relativ unbeantwortet: „Wenn ein Trainer nichts mehr bewegen kann, dann muss er ausgewechselt werden.“ Aha, so einfach ist das also. Aber mal ehrlich: Wirklich tiefgreifende Analysen und konstruktive Verbesserungsvorschläge für bestehende Probleme in unserer Gesellschaft hat ja wohl auch niemand ernsthaft erwartet. Und so war der vorher viel umworbene Bierhoffvortrag nicht mehr als eine schöne Einführung ins Sommersemester. Weniger aber auch nicht.

az